Ulrich Friedrich Opfermann

Wie die jüdische Minderheit war auch die europäische Roma-Minderheit in der Nazi-Zeit überall dort, wo der NS-Staat herrschte und Einfluss hatte, dem Versuch ausgesetzt, sie vollständig zu vernichten.
In vielen Staaten Europas wandten sich Historiographen seit den 1940er/50er Jahren auch diesen Verbrechen zu, versuchten sie zu beschreiben und suchten nach Erklärungen.

Der westdeutsche Staat, nach seinem Selbstverständnis der alleinvertretende Nachfolger des untergegangenen Deutschen Reichs, ging dabei einen eigenen Weg. Die Forschung zur NS-Geschichte der Roma-Minderheit blieb in Westdeutschland lange eine Leerstelle. Das heißt nicht, dass es kein forscherisches Interesse an „Zigeunern“ gegeben hätte, aber dieses Interesse war nicht darauf gerichtet, Verfolgung und Vernichtung aufzuklären und darzustellen. Über Jahrzehnte hinweg wurde das Themenfeld beherrscht von einem rassistischen Erbhygieniker, dem Arzt Prof. Dr. Hermann Arnold. Über die Lehren und die Lehrer der nazistischen Rasse- und Bevölkerungsbiologen, zu „Zigeunern“ ging er nicht einfach schweigend hinweg, er machte sie sich in einer Vielzahl von Publikationen zu eigen und verbreitete die Aussagen der völkischen Mediziner, Ethnologen und Biologen apologetisch weiter in die westdeutsche Öffentlichkeit hinein. Staatlichen und mehrheitspolitischen Widerspruch löste Arnold dadurch nicht aus. Er war eng mit Regierungsinstanzen und staatlichen Einrichtungen verbunden, die ihm dabei halfen und die seine Forschungen förderten. An Arnolds Seite trat in den 1960er Jahren der Nachwuchsjurist Hans Joachim Döring. Dessen Dissertation 1 1964 zu „Zigeunern im nationalsozialistischen Staat“ und ein ihr vorausgegangener Aufsatz in der Zeitschrift des staatlichen Instituts für Zeitgeschichte blieben Dörings einzige, aber nachwirkende Beiträge im Themenfeld. Der Autor hatte – so die kritische Bewertung durch eine zeitgenössische niederländische Juristin – die „Tendenz zu ‚beweisen‘, dass die Zigeuner … verfolgt wurden, … weil sie wirklich eine rassisch untaugliche Menschengruppe“ seien.2 Dörings Schrift stand wie die Aktivitäten von Arnold im Einklang mit der herrschenden geschichts- und ordnungspolitischen Meinung. Dörings Dissertation liest sich wie ein Bewerbungsschreiben für den Eintritt in den westdeutschen Justizdienst, der wie auch damals schon bekannt, außerordentlich stark mit ns-belasteten Juristen ausgestattet war. Im akademischen und im justiziellen Raum hatte Dörings Arbeit einen hohen Stellenwert, weil sie inhaltlich passte und es nichts anderes gab.

Für eine Klärung des Geschichtsbilds, wie sie immer wieder von den Angehörigen der Minderheit und deren Unterstützern öffentlich eingefordert wurde, waren das außerordentlich schlechte Voraussetzungen, und ein mehrheitspolitischer Wille, das zu ändern, fehlte sehr lange vollständig.

Ebenfalls spät, aber doch deutlich früher noch als in Westdeutschland schaute man in den beiden anderen Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reichs“ nach der Geschichte auch dieser Verfolgung. 1966 erschien eine Gesamtdarstellung zu „Österreichs Zigeunern im NS-Staat“3, die Selma Steinmetz, eine Bibliothekarin und Mitglied der Kommunistischen Partei Österreichs mit jüdischer Herkunft, verfasst hatte. 1965 und 1968 erschienen ein Aufsatz und ein Buch4 in der DDR. Die Autoren Heinz Mode und Siegfried Wölffling waren ein Kunsthistoriker und ein Archäologe. In diesem Fall spielten lokale Quellen, die „Zigeuner-Personenakten“ der Magdeburger NS-Kripo, eine bestimmende Rolle. Die die Kapitulation überlebenden zahlreichen „Personenakten“ in Westdeutschland dagegen wurden weiterhin in der Polizei genutzt, um dann aber dort seit Anfang der 1970er Jahre weitestgehend vernichtet zu werden, da sie als Beweismittel in NS-Prozessen verwendet zu werden drohten. Die akademische Forschung hatte sich bis dahin für sie nicht interessiert.

Erst mit der Wende von den 1970er auf die 1980er Jahre erschienen in Westdeutschland ernsthafte zeitgeschichtliche Beiträge zur mitteleuropäischen Roma-Minderheit. Einen systematischen Ansatz zu einer lokalen Geschichte, die über den untersuchten Ort hinauswies, entwickelte 1986 der Westberliner Historiker und Hochschullehrer Wolfgang Wippermann mit einer viel beachteten umfangreichen Lokalstudie zur „nationalsozialistischen Zigeunerverfolgung“ in Frankfurt am Main.5 Wippermann gilt damit in Westdeutschland als der Pionier auf diesem Feld. Die Wahrnehmung einer anderen Pionierleistung blieb dahinter weit zurück: Bereits zwei Jahre zuvor hatte der Berleburger Lehrer Karl Ernst Riedesel in der Zeitschrift Wittgenstein die „Maßnahmen, Planungen und Forderungen“ des örtlichen Bürgermeisters Günther zur „Endlösung der Zigeunerfrage“ untersucht.6 Von Berleburg waren 140 Menschen, mehrheitlich Kinder, die die Rassenhygieniker einer dazu eingerichteten reichszentralen „bevölkerungsbiologischen“ Forschungsstelle als „Zigeuner“ und „Zigeunermischlinge“ bestimmt hatte, nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden. Acht Häftlinge überlebten. Alle Berleburger wussten davon, die wenigsten sprachen davon. Riedesel brach das Schweigen.

Allenthalben entstanden in diesen 1980er/90er Jahren Geschichtswerkstätten und NS-Gedenkstätten, die die unter der Decke gehaltenen Vorgänge enthüllten und mitteilten. Eine lokale zeitgeschichtliche Forschung wie in Berleburg oder in Frankfurt war, wie sich zeigte, an vielen Orten möglich. Heimat- und Geschichtsinteressierte, Schüler, Studenten, Lehrer machten sich ans Werk. Um Anerkennung in einer akademischen Konkurrenz und um Abschlüsse, um Anpassung an ein gegebenes NS-Narrativ, ging es in der Regel dabei nicht, der Blick auf die Gegenstände war kritisch-distanziert, die Akteure sahen sich als Teil der sozialen Bewegungen dieser Zeit. Man war in der Sache motiviert, vertrat einen aufarbeitenden und aufklärenden Anspruch und wurde dazu von sich aus aktiv. Dazu trug nicht zuletzt bei, dass die Minderheit inzwischen über rührige Selbstorganisationen verfügte, die sich öffentlich einmischten und auch in der Frage der Aufarbeitung der minderheitlichen Geschichte initiativ wurden.

Es entstand eine ganze Reihe von lokal und regional ausgerichteten Arbeiten zur NS-Verfolgung der Roma-Minderheit, und als 2012 eine Veröffentlichung die Lage der NS-Forschung zu diesem Thema für das Bundesland NRW bilanzierte und in einem Überblick dokumentierte,7 verfügten die Herausgeber über auswertende Beiträge für 18 Orte, an denen bis dahin Historiographen „zur Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933-1945“ ausführliche Ergebnisse vom Aufsatz über die Diplomarbeit bis zum dicken Buch erarbeitet hatten.

In diesen weiteren Kontext ist auch die vorliegende Seite der VVN-BdA Siegerland-Wittgenstein einzuordnen.
Ausgangspunkt war die unerwartete Beobachtung gewesen, dass die in die Vernichtung führende Verfolgung von „Zigeunern“ sich nicht nur in den großen Städten, sondern auch in der kleinräumigen Struktur der Provinz, sprich in Eschenbach, ereignet hatte. Es ist wie mit den Stolpersteinen, die der Kölner Künstler Gunther Demnig 1992 zu verlegen begann: Ein Stein kommt zum anderen, der seit Anbeginn immer wieder von den Gegnern der Aufarbeitung geforderte Schlussstrich lässt sich nicht ziehen. Und die Erkenntnis kommt hier nicht von den akademischen Höhen und von den Vertretern der etablierten Narrative, sondern von unten. Das ist wert, wahrgenommen zu werden: Neben Eschenbach steht heute etwa die Geschichte der Familie Lind in Nisterberg8 (2020) oder der oberbergischen Stockshöhe9 (2021) und in Marburg sitzt gerade (2023), wie zu erfahren war, jemand, schreibt eine Masterarbeit „zur Erinnerungskultur von Sinti* und Roma* im Sauerland“ und geht dazu dort über die Dörfer.
 

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1Döring, Hans-Joachim, Die Zigeuner im nationalsozialistischen Staat, Hamburg 1964.
2Mazirel, Lau, Die Verfolgung der „Zigeuner“ im Dritten Reich. Vorgeschichte ab 1870 und Fortsetzung bis heute, in: Essays über Quellen- und Literaturverzeichnis 544 Naziverbrechen. Simon Wiesenthal gewidmet, hrsg. vom Bund Jüdischer Verfolgter des Naziregimes (Wien), Wien 1973, S. 123-176, hier: S. 135.
3Steinmetz, Selma, Österreichs Zigeuner im NS-Staat, Wien 1966.
4Mode, Heinz/Wölffling, Siegfried, Zigeuner. Der Weg eines Volkes in Deutschland, Leipzig 1968.
5Wippermann Wolfgang, Das Leben in Frankfurt zur NS-Zeit, Bd. II, Die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung, Frankfurt a. M. 1986.
6Riedesel, Karl Ernst, Eine Endlösung der Zigeunerfrage: Maßnahme, Planungen und Forderungen des Berleburger Bürgermeisters Dr. G. aus dem Jahr 1937, in: Wittgenstein, 72 (1984), Bd. 48, H. 2, S. 52-62.
7Fings, Karola / Opfermann, Ulrich Friedrich (Hrsg.), Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen. 1933-1945. Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung, Paderborn 2012.
8Volker Rosenkranz, Das Schicksal der „Backesnelly“ und ihrer Kinder, in: Daadetaler Geschichtsbriefe, H.11 (2020), S.3-7.
9Opfermann, Ulrich Friedrich, Oberbergische Sinti und Jenische. Das Beispiel Morsbach, in: Grundmeier, Frederik/Michael Kamp/Robert Wagner (Hrsg.), Indoktrination. Unterwerfung. Verfolgung – Aspekte des Nationalsozialismus im Oberbergischen, Rheinisch-Bergischen und Rhein-Sieg-Kreis, Lindlar 2021, S. 266-275.

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Zigeunerverfolgung in Westfalen 1939 – 1945


Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933-1945 bei Ferdinand Schöningh

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